Noch heute taucht der deutsche Michel mit seiner Zipfelmütze immer wieder in politischen Karikaturen des In- und Auslandes auf, um z.B. den dummen Deutschen darzustellen, der sich ohne Protest Steuern aufdrücken lässt. Woher kommt dieses Bild des deutschen Michels, und wie wurde er in der Vergangenheit gedeutet?
Zu seiner Entstehung gibt es unterschiedliche Theorien. Eine Deutung führt ihn direkt auf den Erzengel Michael zurück, der als Leuchtgestalt im Kampf des Lichtes gegen die Finsternis seit dem Jahr 911 n.Chr. Schutz- und Bannherr des Deutschen Reiches war.
Eine andere Theorie, die im Gegenteil zur erstgenannten bereits den Aspekt der „Dummheit“ erklärt, geht von den deutschen „Michelbrüdern“ aus, die im 15. Jahrhundert Kinderwallfahrten zum französischen Mont St. Michel initiierten. Von den Liedern, die die Michelbrüder sangen, verstanden die Franzosen nur das immer wiederholte „Michael“, was dem französischen Wort „michelot“ ähnelte, eine Bezeichnung für einen Betteljungen oder einen frömmelnden Heuchler, der nur zum Schein wallfahrtet. So wandelte der Name „Michel“ sich zum Spottnamen für die dummen deutschen Wallfahrer, die ihr weniges auf dem Weg erbetteltes Geld nach Frankreich brachten.
Vielleicht stammt der deutsche Michel aber auch von dem im ausgehenden Mittelalter beliebten Namen „Michel“. Vor allem unter den deutschen Bauern war „Michel“ so verbreitet, dass im Zweifelsfall jeder Bauer Michel mit Vornamen hieß. Das mag auch daran liegen, dass dieses Wort kongruent mit dem mittelhochdeutschen Adjektiv „michel“ für stark, gewaltig, mächtig war. Namen mit großer Popularität erfahren oft nach einer Weile eine Inflation, die ihnen einen abfälligen Sinn gibt, wie „dumme Liese“, „Klein-Fritzchen“ oder „Hinz und Kunz“ für die alten deutschen Kaisernamen Heinrich und Konrad.
Bereits 1541 findet sich in Sebastian Francks Sprichwörtersammlung der Michel als Synonym für einen „groben dölpel und fantasten“. Im Humanismus wurde es erstmals zum Schimpfwort für den ungebildeten, im Lateinischen nicht bewanderten Deutschen, welches später, im 17. Jahrhundert, auch positiv gewertet wurde: der ehrliche deutsche Michel, der seine deutsche Sprache hochhält.
Seit dem 18. Jahrhundert entstanden der bäurische Michel, als arbeitsamer, aber verträumter Bauern-Knecht, und der philiströse „Vetter Michel“, von dem vermutlich auch die typischen Michel-Requisiten Pfeife und Zipfelmütze stammen. Die Nachtmütze war zu jenem Zeitpunkt schon länger Kennzeichen für Spießbürger mit beschränktem Verstand und furchtsamer Natur.
Michels Karriere als politische und nationale Gestalt begann erst im Vormärz, als das Adjektiv „deutsch“ zunehmend politisch wurde, „der deutsche Michel der Revolutionszeit als verkörperte Bemühung um ein freiheitliches und einiges Gesamtdeutschland“. Häufig wurde er als verschlafender Riesen-Michel dargestellt, der 1813 zwar aus langem Schlaf erwachte, aber inzwischen wieder eingeschlafen war, eingeschläfert wurde oder auch, mehr als Ausdruck einer Hoffnung denn einer Realität, nicht mehr einzuschläfern war. Näheres hierzu später bei der Besprechung der beiden Karikaturen.
Nach der März-Revolution stellte die Karikatur den Michel wieder vom Schlaf übermannt dar, Ausdruck der Enttäuschung über die missglückte Revolution und der Verbitterung über die aufgezwungene Reichsverfassung.
Vor dem und während des Ersten Weltkrieges wurde Michel innenpolitisch immer noch träge und gleichgültig, außenpolitisch jedoch als „guter“ Michel dargestellt, der den absoluten Friedenswillen ausdrückte, aber auch entschieden kämpfte, wenn es nötig war. Im Dritten Reich war die Michel-Figur offiziell verpönt, da sie als zu „dämlich“ galt. In der BRD wurde sie allerdings wieder aufgegriffen, als Symbol für das Streben nach Wiederaufbau oder auch, als geteilter oder doppelter Michel, erneut als Symbol für die deutsche Einheit, wenn auch weitaus resignierter und weniger kämpferisch als im letzten Jahrhundert. Nach 1989 tauchte Michel in der Karikatur nur mehr als dummer Bürger auf, der vom Staat geschröpft wird, ohne dagegen zu protestieren. Er ist neutraler geworden, und nur die Zipfelmütze ist geblieben.
Der deutsche Michel mit Zipfelmütze ist in dieser Karikatur aus dem Jahr 1843 bewegungsunfähig in einem Kinderstuhl eingeklemmt, sein Kopf lehnt an einem Kissen mit einem Lamm. Ein Maulschloss verhindert seinen Protest. Auf seiner Brust sind Zahlenfelder zu sehen, die die 37 souveränen Fürstentümer und Reichsstädte darstellen.
Nationale Kreise forderten bereits vor der Märzrevolution 1848 laut nach der Vereinigung der deutschen Staaten. Nur gemeinsam unter preußischer Führung könne man gegen die Machtinteressen anderer Länder auftreten. Das machte die erste Karikatur deutlich. In dieser zweiten, die eine direkte Fortsetzung ist, ebenfalls 1843 von R. Sabatky gezeichnet, zeigt sich dieses dramatische Erwachen des „deutschen Michels“.