Hermann Löns wird bis heute von vielen Seiten für sich vereinnahmt: Vom Heimatdichter bis zum Sänger der Jugendbewegung, vom Naturschützer bis zum Pazifisten. Als ein Wissenschaftler wagte, an dem Mythos zu kratzen, schlug ihm viel Feindschaft entgegen.
„Das deutsche Gemüt ist eine treue Seele, tief ruht darin, seit fast hundert Jahren, der Heimatdichter Hermann Löns.“ So begann der „Spiegel“ am 21.11.1994 seine Rezension einer aktuellen Biographie über den Heidelyriker Löns. Viele Lieder in Filmen der 50-er Jahre wie „Grün ist die Heide“ entstammen seiner Feder. Seine gefühlvoll dargestellte Naturidylle ist in das kollektive Bildgedächtnis zumindest der Norddeutschen eingegangen.
Tatsächlich werden seine Prosa und Lyrik noch heute viel gelesen: Die Gesamtauflage hat mittlerweile die 10-Millionen-Grenze überschritten, nicht eingerechnet die unzähligen Filme und Lieder, die von ihm stammen oder ihn zum Thema haben. Etwa 150 Gedenkstätten allein in den alten Bundesländern erinnern an ihn, Schulen, Straßen und Plätzen tragen seinen Namen. Zu dem angeblichen „Löns-Grab“ bei Walsrode pilgern jährlich etwa 250.000 Besucher.
Löns-Vereine haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Denkmal „Hermann Löns“ zu pflegen. Sie erhalten ein bestimmtes Bild von Löns aufrecht: das Bild des Kämpfers, der Bauernnatur, des echt deutschen Waidmanns, des Dichters der Lüneburger Heide, des Sängers der Jugendbewegung, oder auch des Umweltschützers. Hermann Löns ist dadurch ein Mythos geworden, dessen wahrer Kern keine Rolle mehr spielt, ein Löns-Mythos ohne Löns.
Als sich der Germanist Dr. Michael Dupke 1994 in seinem Buch „Hermann Löns. Mythos und Wirklichkeit“ kritisch mit Löns‘ Person auseinander setzte, folgte sogleich eine heftige Diskussion. Denn Dupke schilderte Löns als labile und zerrissene Persönlichkeit, als Alkoholiker und Dandy. Das konnte nicht ohne Protest hingenommen werden. Der Vorsitzende des Walsroder Löns-Verbandes Bussmann (zugleich Stadtdirektor von Walsrode), betonte in der Lokalzeitung, es sei völlig unerheblich, ob Löns charakterliche oder menschliche Schwächen besessen und ausgelebt habe. Entscheidend sei das Werk des Dichters, und man sei verpflichtet, es in der Zeit zu verstehen, in der es entstanden sei. Doch gerade dieses historische Bewusstsein, kritisierte Michael Dupke, fehle den Jägern, Heimatpatrioten und anderen, die sich heute auf Hermann Löns beziehen.
Was für ein Mensch war Löns also, wie entwickelte sich der „Mythos Löns“ und warum hat er noch heute, mehr als 80 Jahre nach seinem Tod, eine solche Bedeutung für das norddeutsche Heimatbild?
Geboren wurde Hermann Löns am 29.September 1866 in Kulm an der Weichsel in Westpreußen als erstes von 14 Kindern. Nur neun Geschwister überlebten die harten Zeiten. Mit 18 Jahren zog Hermann mit seiner Familie nach Münster in Westfalen. Unter der Strenge seines Vaters litt er sehr. Nachdem ihm das Abitur erst im zweiten Versuch gelang, studierte er auf Wunsch des Vaters Medizin. Doch er scheiterte bald, ebenso mit einem zweiten Studium der Naturwissenschaften. Aus einer schlagenden Verbindung wurde er wegen Schulden unehrenhaft entlassen.
Anschließend schlug sich der junge Löns als Journalist bei verschiedenen Zeitungen durch. Wegen „Disziplinlosigkeit und Trunkenheit“ wurde er jedoch immer wieder entlassen. Erst 1892 bekam er eine feste Anstellung in Hannover, wo er sich als Lokalredakteur mit Glossen und Naturbetrachtungen einen Namen machte. In der Stadt galt er wegen seiner hellen Anzüge und Hüte bald als Dandy. Doch eigentlich sehnte er sich nach einem ruhigen bürgerlichen Leben. 1901 trennte er sich von seiner ersten Frau, um 1902 erneut zu heiraten. Die zweite Frau schenkte ihm einen behinderten Sohn. In dieser Zeit wuchs in ihm der Wunsch, Romane zu schreiben.
Nach beruflichen Problemen und Ärger mit seiner Frau, der er eine Menage à trois mit ihrer Cousine vorgeschlagen hatte, trennte er sich 1911 von ihr. Ein Jahr lang wanderte er quer durch Deutschland, auf der Flucht vor Alimente-Zahlungen. 1912 kehrte er nach Hannover zurück und lebte nun mit einer Lebensgefährtin zusammen.
Als der Krieg 1914 ausbrach, war unter den vielen begeisterten freiwilligen jungen Männern auch der mittlerweile 48-jährige Hermann Löns. Zunächst wurde er jedoch abgelehnt, denn er hatte seinen regulären Militärdienst nicht abgeleistet. Erst durch persönliche Beziehungen wurde er in die Armee aufgenommen. Nach einer sehr kurzen Ausbildungszeit zog er mit seiner Kompanie an die West-Front. Dort fiel er bereits nach wenigen Wochen am 26.September 1914 bei Loivre vor Reims.
Seine berühmtesten Bücher sind bis heute „Mümmelmann“ (1909) und „Der Wehrwolf“ (1910). Beide schrieb Löns innerhalb von 14 Tagen „in einer Phase großer körperlicher und geistiger Anspannung“ – symptomatisch für seine Produktions- und Lebensweise überhaupt: sich nicht schonend, fast „wahnsinnig“, wie Michael Dupke feststellte.
Für die Nationalsozialisten war Hermann Löns ideal: Seine Heimatliebe ließ sich leicht mit ihrem Blut-und-Boden-Gedanken vereinbaren. Auch sein „Heldentod“ im Ersten Weltkrieg wurde von ihnen aufgewertet: Sein angeblicher Leichnam wurde aufwändig, wenn auch mit vielen Pannen umgebettet.
Von den Nationalsozialisten wurde Löns zu propagandistischen Zwecken benutzt. Sie stellten ihn in ihre „germanische Tradition“. Kennzeichnend hierfür steht die Geschichte seiner Beisetzung in der Lüneburger Heide, die Michael Dupke nachzeichnet:
Sein Leichnam wurde angeblich 1934 auf einem französischen Acker gefunden. Sofort ordnete Hitler persönlich die Umbettung in deutsche Erde und ein Staatsbegräbnis für den „Märtyrer des Weltkrieges“ an. Sein Grab sollte künftig bei den „Sieben Steinhäusern“ sein, etwa 5000 Jahre alten Hünengräbern. Dies sollte die arische Tradition von der Steinzeit bis ins faschistische Deutschland aufzeigen.
Nach einigen Pannen bei der Umbettung wurde der Leichnam zunächst in aller Stille im November 1934 von der SA beigesetzt – an der Landstraße von Soltau nach Harburg. Ein Jahr später setzte die Reichswehr ein deutliches Zeichen, als sie Löns‘ Leiche erneut umbettete und bei Walsrode im Wacholderpark bestattete. Nun sollte weniger die heidnisch-germanische Tradition propagiert, sondern vielmehr das Soldatentum von 1914 glorifiziert werden. Ein Findling weist noch heute auf den berühmten Heimatdichter hin.
Die Aufregung um seine dreifache Bestattung und einige weitere Unklarheiten ließen bereits damals Zweifel an der Echtheit der Leiche aufkommen. Heute scheint klar, so Dupke, dass die Leiche, die in der Lüneburger Heide beigesetzt wurde, nicht der Körper von Hermann Löns war. Denn die Leiche wurde einem Massengrab entnommen, 20 Jahre nach dem Tode Löns‘, und war entsprechend stark verwest.
Die Erkennungsmarke, die bei ihr gefunden wurde, kann nicht die von Hermann Löns sein, denn diese war bereits 1914 seiner Familie zugesandt worden. Außerdem wurde niemals eine Skelett-Untersuchung vorgenommen, obwohl sich die Hausärzte von Löns dazu bereit erklärt hatten.
Die Vereinnahmung von Hermann Löns durch die Nationalsozialisten kam jedoch nicht ganz ohne sein eigenes Zutun noch zu Lebzeiten: Er selbst hatte sich immer wieder sozialdarwinistisch und rassisch-völkisch geäußert. Seine Heimatverbundenheit passte zur Blut- und Boden-Mentalität der Nationalsozialisten. So wurden seine Naturskizzen im Naturkunde-Unterricht des Dritten Reiches gelesen. Seine Lieder waren sehr beliebt bei der HJ. Sein Roman „Grün ist die Heide“ wurde erstmals 1934 verfilmt. Nach und nach, folgert Dupke, wurde Löns sowohl zur „Symbolfigur des deutschen Soldaten“ als auch zum „Propheten des Dritten Reiches“ stilisiert.
In dieser Zeit entstanden auch zwei Biografien über den Dichter. Sowohl die Arbeit von Erich Griebel als auch die von Wilhelm Deimann („Der Künstler und Kämpfer“, Hannover 1935) waren stark ideologisch gefärbt. Aus dem Vorwort von Deimann:
„Die große Volkstümlichkeit des Dichters hat seltsamerweise den einen oder anderen veranlasst, in die reine Höhe des Löns’schen Künstlertums Zweifel zu setzen.“
Sein Buch kommt zu dem Ergebnis, dass Löns einer der größten deutschen Landschaftsdichter und Vater der neuen deutschen Tierdichtung sei. „Mehr noch: Sein Leben erweist sich als ein einziger Kampf um die deutsche Seele. Der Abschluss war Kampf und Opfertod für Deutschland.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die braune ideologische Komponente des Löns-Mythos bald politisch und gesellschaftlich inakzeptabel. Nur die rechte Szene hielt noch daran fest. Anlässlich des 100. Geburtstags von Löns schrieb das Nachrichtenorgan der NDP: „In Hermann Löns lebte unser Volk, soweit es sich selbst treu geblieben, noch an eine Zukunft glaubte und um sie zu kämpfen willens war!“
Und die „National- und Soldatenzeitung“ der NPD meinte: „Hermann Löns lebt in den Herzen aller anständigen Deutschen unsterblich weiter!“
Über die Jahrzehnte blieb Löns beliebt, wenn auch aus jeweils anderen Gründen. Er schien grundlegende Bedürfnisse bei seinen Lesern anzusprechen: Orientierungslosigkeit in Zeiten des Umbruchs, Heimatliebe und naturromantische Vorstellungen. Die Kontinuitäten werden verdrängt.
Hermann Löns ist ein Beispiel für lang anhaltenden Erfolg, unabhängig von der jeweiligen Staatsform und dem aktuellen Gesellschaftssystem. Von der Kaiserzeit bis zur Bundesrepublik erfüllte er offenbar grundlegende Bedürfnisse bei seinen Lesern und Bewunderern, konstatiert Michael Dupke.
Doch was ist das Geheimnis seines Erfolges? Löns schilderte in seinen Werken immer wieder eine Natur, die in dieser Unberührtheit bereits zu seinen Lebzeiten nicht mehr existierte. Damit bot er seinen Lesern eine „Kompensation für das Leben in einer Industriegesellschaft“. Zugleich schuf er damit eine Modellvision für ein Leben, in dem die Menschen durch den Rückzug in die „heile Natur“ Kraft schöpfen.
Umbruch und Orientierungslosigkeit
Außerdem lebte Löns selbst in einer Zeit des Umbruchs. Das wilhelminische Deutschland erlebte den Beginn der Moderne, was verbunden war mit vielen Ängsten und Orientierungslosigkeit. In diesem Moment, schreibt Dupke, lieferte Löns mit den „Konzepten Volk, Nation und Heimat ein Sinnangebot für das Leben in einer Massengesellschaft“. Damit kam er dem „Bedürfnis nach kultureller Identität“ entgegen.
Diese Unsicherheiten gab es auch in den Umbruchsituationen der 20-er und der 50-er Jahre. Sogar heute noch hinterlässt der „Wechsel von der Industriegesellschaft zur computerisierten Informationsgesellschaft ähnliche Defizite in der psychischen Verfassung des modernen Menschen wie die Umbruchphase der Jahrhundertwende“. Der „Frage nach der eigenen Stellung in der Gesellschaft und der eigenen Identität“ kann, so Dupke, auch heute mit der Löns’schen Pseudo-Antwort begegnet werden: dem Trost durch den literarischen Rückzug in die Natur mit ihren traditionellen Werten.
Heute gilt Löns in politisch neutralen Kreisen auch als „erster Ökologe“ und Vorkämpfer für den Naturschutz. Tatsächlich hat er 1911 den ersten deutschen Naturschutzpark in der Lüneburger Heide mitbegründet, der Vorbild für viele andere Parks wurde. Dupke warnt jedoch: „Löns‘ Engagement war nicht von ökologischen Beweggründen bestimmt, sondern von ästhetischen und politischen Aspekten, die typisch waren für die Naturschutzarbeit der Jahrhundertwende.“
Seine naturromantischen Vorstellungen ließen keine Veränderung der Naturidylle zu. Ölbohrtürme, die um die Jahrhundertwende in der Heide entstanden, lehnte er ab. Denn sein rassisches Überlegenheitsgefühl fürchtete, dass die Bindung an die Natur als Kraftressource für die stärkste Rasse, nämlich die deutsche Rasse, dadurch vernichtet werden könnte. Naturschutz war für Hermann Löns, spitzt Dupke zu, „zielbewusste Vaterlandsliebe“, nicht ökologische Erwägung.
Die heutigen Löns-Verehrer, kritisiert Dupke, sind sich dieser Hintergründe oft nicht bewusst. Überhaupt wurden „die Kontinuitätslinien des völkischen Naturschutzes nach 1945 verdrängt“. Und die Löns-Vereine, in deren Händen die Löns-Forschung hauptsächlich liegt, tun sich auch schwer damit, diese falschen Löns-Bilder richtig zu stellen. Immerhin baut ein großer Teil des Fremdenverkehrs der Lüneburger Heide noch heute auf diesem Mythos auf. Doch gerade diese historischen Defizite machen laut Dupke die uneingeschränkte Verehrung des Mythos Löns so gefährlich. (bik)
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