Besuch der Hauptstadt in Zeiten des Wahlkampfes 2002

Ach, wie ist's möglich dann...

(erschienen im Onlinemagazin Bremer Zeitkultur, 15.09.2002)

Bremen/Berlin. „Wenn Sie auch nur zwei Minuten zu spät zum Bus kommen, sind wir weg – wir warten nicht!“ Drohend schallt eine Stimme aus den Lautsprechern über den Sitzen, und draußen graut der Morgen. Diese Reise verspricht nett zu werden. Damit eines klar gestellt ist: Dies ist nicht eine Klassenfahrt in den Harz mit Zehnjährigen, sondern eine Besucherreise ins „politische Berlin“ auf Einladung eines Mitglieds des Deutschen Bundestages (MdB), Ina Lenke von der FDP, also mit erwachsenen Bürgern und Bürgerinnen.

Der Untertan in uns

Reiseleiter Klöckner macht gleich die Spielregeln deutlich, und an die halten wir uns denn auch erstaunlicherweise ohne großes Murren. Irgendwie steckt in uns allen vielleicht doch „Der Untertan“?

Ohne Stau geht es in die Hauptstadt. Dort, ohne Einchecken ins Hotel, gleich weiter zur Landesvertretung Niedersachsen und zu einer Stadtrundfahrt. Unser Programm für die nächsten drei Tage ist voll gepackt, kaum einmal eine Stunde Pause zwischendurch und immer den „Zeitfresser“ Klöckner im Nacken. Der bekommt übrigens noch Verstärkung durch einen Menschen namens Luckow, der uns durch Berlin begleitet, uns viele Sehenswürdigkeiten im Schweinsgalopp zeigt und nebenbei mit grottenschlechten DDR-Witzen und parteipolitisch gefärbten Seitenhieben auf die (noch?) amtierende Regierung „erfreut“.

Honecker-Witze

Beispiele gefällig? Als wir an einem Kamerateam vorbeikommen, das augenscheinlich Aufnahmen für einen Film macht, bemerkt Herr Luckow die rege Medientätigkeit in der Hauptstadt und streicht hervor, dass jede Kinokarte mit zehn Euro subventioniert werde, weshalb die FDP ja auch meine, man solle lieber den Markt entscheiden lassen, welcher Film sich durchsetze; es gebe Wichtigeres, als jeden Blödsinn zu bezahlen. Oder: Vor dem Platz der Republik soll Honecker eines Morgens entdeckt haben, wie jemand in den frisch gefallenen Schnee „Honecker ist doof“ hineingepinkelt hat. Als er Mielke darauf ansetzt, wer denn das getan hätte, rückt dieser nach ein paar Tagen mit der Wahrheit heraus: „Also, der Urin ist ohne Zweifel von Genosse Krenz, aber die Handschrift ist die von deiner Frau!“ Großes Gelächter… Nun ja, so eine Berlin-Reise ist nichts für zarte Gemüter, keine Frage. 

Spannender hingegen sind die Besichtigungen im Verbraucherschutzministerium und im Auswärtigen Amt. Hier haben wir das Glück, nicht endlich mal nicht von Öffentlichkeitsmitarbeitern abgespeist zu werden, sondern Fachreferenten zu erleben, die ihre Arbeit sehr gut kennen und auch interessant erklären. Politische Diskussionen entbrennen um die Agrarsubventionen und Gen-Food, doch fast wichtiger scheint es den lieben Mitreisenden zu sein, hinterher die kostenlosen bunten Broschüren der Bundesregierung in die kostenlosen Textil-Taschen zu stopfen und den kostenlosen Kaffee zu trinken.

Alles „umsonst“

Dabei ist die gesamte Reise kostenlos. Nur wer abends die Mini-Bar plündert oder Extra-Getränkewünsche hat, muss löhnen, ansonsten ist fast alles inklusive. Na ja, eigentlich haben wir braven Steuerzahler die Reise ja ohnehin schon vorfinanziert – nur dass die wenigsten wissen, dass ihnen eine solche Besuchsreise zusteht, ja sie sogar Bildungsurlaub dafür beantragen können! Weil es aber so wenige wissen, sind es oftmals dann doch die Gesinnungskollegen des Gastgebers oder der Gastgeberin, die nach Berlin kommen. Als Dankeschön, weil sie beim letzten Wahlkampf blau-gelbe Schals gestrickt haben, als Belohnung, weil sie bei der Fußball-WM-Endspielübertragung der Julis auf Brasilien gesetzt haben, oder weil sie verdiente Parteimitglieder sind.

Kuriose Mischungen kommen so zustande: Jungstudenten, die noch an Ideale glauben, sitzen neben Hausfrauen, die sich freuen, endlich mal aus der Kleinstadt herauszukommen, Rentner neben Arbeitslosen, die beide alle Zeit der Welt haben. Das Beste waren auf unserem Trip zwei, nennen wir sie anschaulich „Waldorf und Staedler“: Zwei schätzungsweise 75- und 83-Jährige, die ebenso lautstark wie ihre Muppet-Brüder ihre Meinung verkündeten und bereits nach dem Frühstück einen doppelten Korn verdrückten. Man muss ja in Übung bleiben…

Politische Bildung als Ziel

Das Ziel der Reise ist aber ja nicht, Schloss Charlottenburg in sengender Hitze von außen zu betrachten oder von rheinischem Sauerbraten zur gefüllten Maispoularde zu hasten, sondern die politische Bildung. Die besteht auch in einem Besuch im Reichstag, wo glücklicherweise gerade eine Sitzung stattfindet, die wir von den Zuschauertribünen aus verfolgen können. Als es jedoch spannend wird – Barnabas Schill betritt das Pult, um seine unselige Rede zu halten -, müssen wir leider unsere Plätze verlassen. Im Fraktionssaal der FDP in einem der Türme des Reichstages begrüßt uns dann unsere Gastgeberin Ina Lenke, die wir kurz zuvor noch im Plenarsaal sitzen sahen. Unterstützung hat sie sich geholt von ihren Parteifreunden Gudrun Kopp und Hildebrecht Braun, doch wie sich schnell herausstellt, haben alle drei nur wenig Zeit für ihre Gäste – Wahlkampfauftritte in ganz Deutschland und andere Termine rufen. So wird aus der vereinbarten Fragestunde zur Arbeit im Reichstag eher eine Gelegenheit für die Politiker, ihre holzschnittartigen Statements zur FDP-Politik und zu ihren Schwerpunkten im Programm abzugeben – Sprechblasen, mehr nicht. Vielleicht wäre dieser Punkt zu einem anderen Zeitpunkt als drei Wochen vor der Bundestagswahl anders abgelaufen?

Hohenschönhausen

Der beeindruckendste Teil der Reise ist jedoch ein Besuch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, einem Stasi-Untersuchungsgefängnis. Ein ehemaliger Stasi-Verfolgter, der Schriftsteller Peter Wulkau, führt uns durch die nach Lysol riechenden Verhörzimmer mit ihren gepolsterten Türen und dem Charme der 70-er Jahre, die engen kerkerartigen Zellen aus der Anfangszeit und die späteren, fast komfortablen Zellen, in denen Dissidenten wie Jürgen Fuchs in Isolationshaft saßen.

Sich vorzustellen, hier eingesperrt zu werden wegen scheinbarer Lappalien, erschreckt die Besucher. Eine Frau überlegt: „Man gut, dass wir so kleine Lichter sind. Mein Mann meint ja so schon immer, mit meiner losen Klappe werd ich noch mal eingesperrt…“ Leider bleibt zu wenig Zeit hinterher, um in Ruhe über die Eindrücke zu sprechen – der Bus steht bereit und unser „Zeitfresser“ Klöckner drängt zur Heimreise… Am Ende ernten wir denn auch ein Lob von unserem Eintreiber: „Sie waren sehr diszipliniert!“ Und er ermuntert uns zum Abschied unserer dreitägigen Tour de Force: „Wenn Sie wirklich etwas am 22. September ändern wollen, wählen Sie die richtige Partei.“ (bik)

Birgit Köhler

Journalistin
Historikerin
Lyrikerin
Autorin
aus Bremen