Wien, die Operettenmetropole

Seit 1683 war Wien Residenzstadt der habsburgischen Donaumonarchie. Nach eineinhalb Jahrhunderten der Türkenbedrohung stieg die heitere Barockstadt damit zu europäischer Geltung auf. Durch die Lage der Stadt in der Mitte des riesigen Reiches wurde Wien Verwaltungshauptstadt. Und ihre Lage nahe der Donau ermöglichte den Handel mit Ungarn und den Balkanländern, die sowohl Warenlieferanten als auch Absatzmarkt für österreichische Produkte waren. Alte Landhandelswege führten außerdem von Venedig über Wien in den Norden.
Keine bürgerliche Gesellschaftsschicht
Doch diesen Handel trieben hauptsächlich oberitalienische und deutsche Kaufleute. Und österreichische hohe Beamte bemühten sich lieber, möglichst schnell in den Amtsadel aufzusteigen. Dadurch fehlte bis ins 18. Jahrhundert in Wien eine größere bürgerliche Gesellschaftsschicht.
Die städtische Kultur wurde daher von der sozialen Oberschicht geprägt, die sich wesentlich von den ländlichen Kultur außerhalb Wiens unterschied. Sie entsprach dem Absolutismus, war also auf Repräsentation angelegt – prunkvolle Theater und Sommerpaläste wie Belvedere und Schönbrunn beweisen das noch heute.
Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts bildete sich langsam eine bürgerliche Schicht aus, die vor allem im wirtschaftlichen Bereich tätig wurde: Um 1790 gab es in Wien und direkter Umgebung fast 300 Manufakturen, die von bürgerlichen Unternehmern aufgebaut worden waren. Doch der großgrundbesitzende Adel, der aufgeblähte Staatsapparat und die restriktive Politik des Staates wünschten vorwiegend Kleinbetriebe und verhinderte noch lange eine wirtschaftliche Blüte.
Österreichische Kaiserstadt
1804 begründete König Franz II. das österreichische Kaisertum. Damit war Wien nicht mehr die Hauptstadt des römisch-deutschen Reiches, sondern österreichische Kaiserstadt, die sich zunehmend dem Südosten der Doppelmonarchie zuwandte. Obwohl die Napoleonischen Kriege schwere wirtschaftliche Folgen für die Region hatten, wurde die Stadt mit dem Wiener Kongress und seinem Prunk weltberühmt. Die Kluft zwischen Hauptstadt und Umland vergrößerte sich: Die Kosten für die diplomatischen Festlichkeiten mussten von den unbeteiligten Gesellschaftsschichten getragen werden. Und das Ergebnis des Kongresses, nämlich die Restauration, die Wiederherstellung der vor-napoleonischen Zustände, schuf zahlreiche Härten für liberal denkende Bürger in ganz Europa.
Erst nach 1830 hatte sich Wien von wirtschaftlichen Kriegsfolgen erholt, die Industrialisierung konnte beginnen. Vor allem Textil- und Luxuswaren, Baustoffe, Lebensmittel und Chemie wurden produziert. Damit einher ging eine Landflucht des ländlichen Proletariats, die Wiener Bevölkerung verdoppelte sich fast in weniger als 50 Jahren auf 430 000 Menschen (1848).
Widerstand gegen Metternich
Das innenpolitische Regime des Fürsten von Metternich, das die Veränderung der bestehenden Verhältnisse gewaltsam unterdrückte, erregte Widerstand, sowohl in Wien als auch in Deutschland und Frankreich. Am 13. März 1848 begann in Wien die Märzrevolution, die anfangs einige Erfolge zu verbuchen hatte. Doch als der österreichische Kriegsminister erschossen wurde, griff das Kaiserhaus unter dem jungen Kaiser Franz Josef I. ins Geschehen ein und ließ die Revolution am 31. Oktober 1848 blutig beenden. Nachdem auch die Revolution in Ungarn mit Hilfe der russischen Armee niedergeworfen war, kehrte Franz Josef I. zum zentralistischen Absolutismus zurück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1916 wurde der Kaiser mehr und mehr zum äußeren Symbol für den Zusammenhalt Österreich-Ungarns. Seine Person war die Integrationsfigur für den Vielvölkerstaat.
In den 1860er und 70er Jahren, den Gründerjahren, entstanden zahlreiche große Bauprojekte, die hauptsächlich von der städtischen Oberschicht finanziert wurden: die erste Hochquellwasserleitung, die die hygienische Wasserversorgung der Stadt verbesserte, die Regulierung des Donaubettes, die die regelmäßigen Überschwemmungen unterband, und die Ringstraße um die innerste Stadt herum. Seine prunkvoll gestalteten Großbürgers- und Adelshäuser symbolisierten den wachsenden Reichtum der Oberschicht Wiens. Zum innerstädtischen Ausbau kam bis 1905 die Eingemeindung der meisten Wiener Vororte. Insgesamt 21 Distrikte entstanden, die Fläche der Stadt wuchs von 55 auf 273 Quadratkilometer. Bereits 1890 war die Bevölkerung auf 1,36 Millionen angewachsen. 1905 betrug sie 1,88 Millionen Einwohner, während im gesamten österreich-ungarischen Reich 52 Millionen Menschen lebten.
Wiener Bezirke
Der innerste Bezirk Wiens war adelig geprägt, während in dem Ring darum herum die Großbürger wohnten. Wiederum einen Ring weiter überwog das kleinbürgerliche Gewerbe, in den äußeren Bezirken war die Industrie (vor allem Metall- und Baubranche) angesiedelt. 1913 gab es in Wien nur 16 größere, mehr als 1000 Arbeiter beschäftigende Fabriken. Wegen fehlender öffentlicher Transportmittel entstanden die Arbeiterviertel rund um die Fabriken. Dort lebten die Arbeiter in engen, schlecht ausgestatteten und teuren „Zinskasernen“. In diesen Vierteln, wie Favoriten, fand die 1889 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterparte Österreichs (SDAP) die Mehrheit ihre Anhänger. Gemeinsam stritten sie für den Acht-Stunden-Tag und das allgemeine Wahlrecht.
Ebenfalls um das Wahlrecht kämpfte die Christlichsoziale Partei, die ihre Anhänger unter den unzufriedenen Kleinbürgern hatte. Von 1897 bis 1910 regierte der christlichsoziale Bürgermeister Karl Lueger in Wien. Er kommunalisierte die Gas- und Strombetriebe und baute öffentliche Verkehrsmittel und Wohlfahrtseinrichtungen aus, um das wachsende Elend der unteren Bevölkerungsschichten zu lindern. Seine Steuerpolitik ging allerdings zu Lasten der sozial Schwachen. Trotzdem war mit diesem „Gas- und Wassersozialismus“ ein Grundstein gelegt, auf den die Sozialdemokraten in den zwanziger Jahren aufbauen konnten.
Wahlrechtsreform
Die Wahlrechtsreform von 1907 brachte das allgemeine und gleiche Wahlrecht im österreichischen Staat. Für die Wiener Gemeinderegierung galt aber bis 1918 das Klassenwahlrecht, das der zahlenmäßig geringeren Oberschicht mehr Mandate zugestand als der größeren Unterschicht. So ist es zu erklären, dass die Sozialdemokraten in den Reichstagswahlen die stärkste Partei in Wien waren, aber im Gemeinderat nur sieben von 165 Mandaten erreichten. Das sollte sich allerdings 1918 für einige Jahre ändern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wien des 19. Jahrhunderts in der Donaumonarchie in kultureller Hinsicht eine herausragende Stellung einnahm. Die prachtvolle Architektur der Ringstraße, die feinen Künste, die vom Adel und reichen bürgerlichen Mäzenen unterstützt wurden, hatten europäischen Rang. Künstler kamen nach Wien, um sich hier einen Namen zu machen. Dies hatte aber kaum Einfluss auf das österreichische Land. Die Bezeichnung „Operettenmetropole“ und „Walzerhauptstadt“ drücken diesen Zustand gut aus.
Umgekehrt war auch der Einfluss des Reiches auf die Hauptstadt minimal: Der Vielvölkerstaat zeigte sich im „Zigeunerbaron“, aber das Volkstheater, die Bauernschwänke, gerieten zusehends außer Mode. Das ländliche Proletariat gab seine Kultur unter der Industrialisierung weitgehend auf und urbanisierte schnell. Die Trennung zwischen Stadt und Land wurde immer größer, immer weniger gegenseitige Beeinflussung fand statt. Die Identifikationsfigur des großen Donaureiches war, wenn überhaupt, der Kaiser, nicht aber dessen Hauptstadt Wien. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung Wiens als Metropole der Donaumonarchie fraglich.