Ein Mord ohne Leiche?

Ein Theaterbesuch auf hoher See

(erschienen im Onlinemagazin Bremer Zeitkultur, 15.08.2002)

Wilhelmshaven. Kurz vor halb acht am Abend versammelt sich eine kleinere Menschentraube vor dem Anleger der „MS Jade Perle“ in Wilhelmshaven. Eine Hafenrundfahrt im Sonnenuntergang? Nein, irgendetwas erscheint merkwürdig. Manche der Damen und Herren kommen in eleganter Abendkleidung, andere im Friesennerz (und das bei überraschend mildem Wetter), eine Gruppe Nonnen wartet ebenfalls…

Dann fährt plötzlich ein silberner Porsche vor – der Chauffeur öffnet einem hawaiibehemdeten gut genährten Stefan-Raab-Verschnitt die Tür. „Das ist Atze“, murmelt es aus dem Pulk der Wartenden.

Keine normale Hafenrundfahrt

Um es vorweg zu nehmen: Es handelt sich nicht um eine Hafenrundfahrt im klassischen Sinne, sondern eher um ein Theaterspiel „auf hoher See“. Nun schon zum dritten Mal veranstaltet die Wilhelmshaven Projekt GmbH zusammen mit der Landesbühne Niedersachsen Nord diese Inszenierungen an Bord der Jade Perle – ohne Bühne, dafür an allen drei Decks und mitten im Publikum. Das Motto in dieser Saison: „Casino Royale“.

Und zusammen mit dem Obertitel der Reihe, „Mord auf hoher See“, scheint das Thema beschrieben zu sein: Es geht also um ein illegales Spielcasino an Bord des Schiffes, in dem allerhand Dubioses und letztlich wohl auch Mörderisches stattfindet. Doch wer nun eine stringente Handlung erhofft, wird enttäuscht. Statt dessen werden parallel mehrere kleine Geschichtchen erzählt: Da ist die Story von den drei Kumpels Peter, Rainer und Hans, die von der Südsee träumen und von einer Schatzkiste, die sich im Bordtresor befinden soll, und da ist die Geschichte von Atze, dem Casino-Besitzer und Ganoven, der sich nebenbei noch um seine beiden Geliebten Belinda und Babsi kümmern muss.

Zwielichtige Personen an Bord

Dann gibt es noch Frau Morgenthaler, die ihr Vermögen am Black Jack-Tisch verzockt, ihre Altenpflegerin, Schwester Christa, die regelmäßig ins Koma fällt, und die beiden Mordschwestern, die etliche Ehemänner um die Ecke gebracht haben. Und daneben noch einige andere mehr oder weniger zwielichtige Personen, die Verwirrung stiften. Wer ist Schauspieler, wer Publikum? Gehört jener Andy aus Hamburg, der seinen Cousin Hans sucht, auch zur Truppe? Warum gab er sich am Kai noch als australischer Kommissar aus? Und was ist mit den beiden Pärchen, die mit Al-Capone-Hüten und Federdiadem ihren Prosecco schlürfen?

Der Reiz des „unsichtbaren Theaters“ liegt genau in dieser Verwirrung und der Möglichkeit der Zuschauer, die Handlung mitzulenken. Dennoch ist genau hier auch ein Schwachpunkt der Inszenierung: Denn nicht alle Schauspieler gehen auf die Einwürfe des Publikums ein – wie haben wir auf Belinda eingeredet, nicht der falschen Schlange Babsi zu trauen, und was passierte? Ihr Herz brach und wir haben es kommen sehen… Manches wird sogar schlicht übersehen, weil es nicht zum Konzept passt: Als die echte (?) Wasserschutzpolizei das Schiff kontrolliert, ignoriert sie einige Jetons, die sie auf das illegale Spielcasino hätten aufmerksam machen können.

Leerer Tresor?

Auch die zeitgleichen Handlungsstränge machen es manchmal etwas schwer, alles mitzukriegen. Wer sich gerade am falschen Deck befindet, weil er noch unbedingt seine Glückssträhne beim Roulette ausnutzen will, oder wegen des Gedrängels auf den Gängen nicht rechtzeitig dazu kommt, dem entgeht Wesentliches. Das fördert zwar auch die Kommunikation innerhalb des Publikums („Wie? Wer ist jetzt tot?“), ist aber auch anstrengend und mitunter unbefriedigend. So weiß die Rezensentin immer noch nicht, ob es jetzt tatsächlich einen Mord an Bord gab und wieso der Tresor, der in einer spektakulären Aktion an Bord eines anderen Schiffes gehievt wurde, nun doch angeblich leer war. Aber vielleicht muss man auch gar nicht alles wissen und verstehen, um diese ungewöhnliche Theaterproduktion zu genießen – oder diese ungewöhnliche Hafenrundfahrt, wie auch immer.

Das Stück „Casino Royale“ an Bord der MS Jade Perle ist noch zwei Mal in dieser Saison zu sehen: Am 23. und 24. August 2002. Einlass ist jeweils um 19.30 Uhr am Helgolandkai in Wilhelmshaven. Karten gibt es bei der Volksbank Wilhelmshaven unter 0 44 21 / 40 67 12. (bik)

Birgit Köhler

Journalistin
Historikerin
Lyrikerin
Autorin
aus Bremen