Nachdem die deutsche Massenauswanderung seit den 1870er Jahren abgeflaut war, ergoss sich von 1881 an erneut ein großer Strom von Auswanderern über Deutschland, dieses Mal hauptsächlich osteuropäische Juden, die aus schweren wirtschaftlichen Situationen und vor religiöser Verfolgung vor allem aus Russland flohen. Auch diese versprachen sich von der Immigration in die USA eine Besserung ihrer Stellung und durchzogen auf ihrem Weg zu den Hafenstädten Deutschland. Doch ihre große Zahl und die Gefahr der Einschleppung gefährlicher Krankheiten bereitete sowohl den Auswanderern selber als auch den deutschen Reedern, Behörden und Politikern Schwierigkeiten.
Die vorliegende Quelle erscheint als Dokumentation der Lage der Durchwanderer besonders interessant, da die Autobiographie von Mary Antin als repräsentativ für die Mehrzahl der 1894 auswandernden russischen Juden gelten darf.
Die folgende Quelleninterpretation befasst sich im Kern mit der Frage nach den verschiedenen Stationen auf der Reise von der russisch-preußische Grenze bis zur Abfahrt des Schiffes in Hamburg. In einem zweiten Schritt sollen besonders die sanitätspolizeilichen Maßnahmen im Auswandererverkehr untersucht werden, um zu einer Beurteilung der Reisebedingungen der russischen Juden nach 1892 durch Deutschland zu kommen.
Die Quelle ist unwissenschaftlich geschrieben, was in der Natur einer Autobiographie liegt, was aber die wissenschaftliche Untersuchung nicht unmöglich macht, da die in der Quelle genannten Fakten mit der damaligen Realität, wie sie sich aus anderen Quellen und der Sekundärliteratur ergibt, verglichen werden können.
Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um einen Auszug aus der Autobiographie von Mary Antin. Sie wurde erstmals unter dem Titel “From Plotzk to Boston“ 1899 in Boston, in erweiterter Fassung als “The promised land“ 1912 in Boston und Großbritannien veröffentlicht und erschien 1913 das erste Mal in Deutschland als “Vom Ghetto ins Land der Verheißung“. Zur Interpretation wurde die 2. deutsche Auflage der autorisierten Übersetzung von 1914 benutzt. Mary Antin schrieb ihre Memoiren bereits mit knapp 30 Jahren; sie begründet ihren Schritt im Vorwort damit, dass sie eine objektive Distanz zu ihrem ersten Lebensabschnitt habe ‚da dieser abgeschlossen sei. Ihr Leben sei deshalb veröffentlichenswert, weil ihre Entwicklung von der mittelalterlichen Abgeschiedenheit des Schtetls, der jiddischen Dorfgemeinschaft‚ ins moderne Amerika des 20. Jahrhunderts sehr typisch für russische Juden ihrer Zeit sei.
Adolf Saager, der Herausgeber der Memoiren Bibliothek, bezeichnet Mary Antin in seiner Einführung zu ihrem Buch als normal begabte Jüdin, die einzig durch ihre Sensibilität und Erinnerungskraft hervorstäche. Auch er bescheinigt ihr besondere Vollmacht, ihren Lebensweg als Schilderung der Lage der Juden im zaristischen Russland und im “Land der Verheißung“, Amerika, zu generalisieren.
Die Verfasserin wurde 1881 in Plotzk bei Witebsk in Weißrussland geboren, ihre Eltern waren unter den Umständen des jüdischen Ghettos verhältnismäßig wohlhabend und die vier Kinder genossen eine moderne Bildung. Doch durch lange Krankheit und erhöhte Konkurrenz in Plotzk durch die Vielzahl der Juden, die vom zaristischen Antisemitismus betroffen, gezwungen waren, in den Städten des ihnen erlaubten Ansiedlungsgebietes zu leben und zu arbeiten, verarmte die Familie Weltmann (Antin), bis dem Vater 1891 die Auswanderung nach Amerika als einzige Möglichkeit erschien.
Drei Jahre später holte er seine Familie nach, obwohl der Start in Boston nicht einfach war. In Amerika stieg die Autorin durch Begabung, Fleiß und Glück von den Proletariervierteln zur Gebildetenwelt hoch, während ihre Familie etliche wirtschaftliche Fehlschläge erfuhr und sich ihr Leben nur langsam verbesserte. Mary Antin veröffentlichte bis 1935 etliche Essays, Kurzgeschichten und Gedichte und hielt Lesungen, die Themen der russisch- jüdischen Emigration und des Amerikanismus behandelten. 1918 zog sie sich aufgrund einer Krankheit vom öffentlichen Leben zurück und starb am 15.5.1949.
Die Autorin stützte ihre Berichte im allgemeinen auf ihre Erinnerung, im Falle des vorliegenden Auszuges benutzte sie des weiteren das Original eines Briefes, in dem sie einem Onkel in Russland eine sehr detaillierte Reisebeschreibung abgibt.
Die Reise 1894 von Russland bis Hamburg auf dem Wege nach Boston steht im Mittelpunkt des vorliegenden Quellenauszuges. Die Familie, die mit Pässen, Schiffskarten 3. Klasse, etwas Geld und Gepäck per Zug zum Hafen wollte, sei durch die Maßnahmen der deutschen Staaten gegen die vermeintliche Einschleppung von gefährlichen Krankheiten wie die Cholera durch osteuropäische Durchwanderer betroffen worden. Es seien ihr an der Grenze die Pässe weggenommen und mit Abweisung gedroht worden, da sie nicht über ausreichend Bargeld verfügte. Einem jüdischen karitativen Hilfsverein für Auswanderer sei es zu verdanken, dass sie ihre Reise dennoch fortsetzen konnte. Nachdem sie unterwegs mehrfach verhört, registriert, untersucht und desinfiziert worden sei ‚ habe man die Familie Antin in Hamburg in den Auswandererbaracken am Hafen in Quarantäne gehalten, bis ihr Schiff abfuhr.
Antisemitismus hatte im russischen Zarenreich eine lange Geschichte. Bereits 1786 schuf ein, „Ukas“, ein Zarenerlass, einen Sperrbezirk für Juden, genannt “certa“ oder “Ansiedlungsrayon“, in dem Juden leben und arbeiten mussten. Unter Zar Nikolaus 1. wurde 1835 dieser Ansiedlungsrayon erneut festgelegt, Konzessionen für Handwerker und Bauern verteilt und die Registrierung von Juden sowie die Verweltlichung ihres Erziehungswesens angeordnet.
Zar Alexander II. (1818-1881) lockerte diese antijüdischen Gesetze leicht, so gab es nunmehr eine Wohn- und Arbeitserlaubnis außerhalb des Rayons für Privilegierte wie zum Beispiel Kaufleute der 1. Gilde, Akademiker und gelernte Handwerker. Nach seiner Ermordung setzten große antisemitische Pogrome ein, von denen zum Teil vermutet wird, dass sie staatlich entfacht waren, um von den inneren Problemen abzulenken.
Der neue Zar Alexander III. beantwortete die Ausschreitungen mit einer Verschärfung der antijüdischen Gesetze, um dadurch den Kontakt und das Konfliktpotential zwischen Juden und Russen zu vermindern und um die, nach dem neuen Innenminister Ignatiev gefährliche Assimilation der Juden, die eine Verschwörungsgefahr darstelle, zu beenden.
Mit den Maigesetzen 1882 wurden die Privilegien aufgehoben und die jüdische Bevölkerung zwar nicht vom Land vertrieben, aber die Neuansiedlung auf dem Lande verboten Als Reaktion wanderten die Juden in die Städte innerhalb des erlaubten Gebietes ab bzw. begannen, nach Amerika auszuwandern. Die Maigesetze wurden allerdings in der siebenjährigen Amtszeit des Innenministers Tolstoi nicht sehr einheitlich und streng durchgeführt, so dass es für die Juden immer noch Freiheiten gab.
Im Frühjahr 1891 allerdings setzte erneut eine Verschärfung der antijüdischen Gesetze ein: Der Ansiedlungsrayon wurde verkleinert und 20 000 ehemals geduldete Juden aus Moskau vertrieben ‚ was sich sofort auch auf die Amerikaauswanderung auswirkte. Der russische Staatsmann Pobedonozew sagte 1893: “Die beste Lösung der Judenfrage wäre es, wenn ein Drittel der Juden verhungerte, ein Drittel auswanderte und ein Drittel orthodox würde.“
Das Ansiedlungsrayon, das 1/23 des ganzen russischen Zarenreiches ausmachte und in dem 95,5 Prozent der russischen Juden lebten, erstreckte sich über 15 westliche und südliche Gouvernements und die 10 polnischen Gouvernements 50,5 Prozent der Juden lebten als Folge des Landbesiedlungsverbotes in Städten. Die Berufsgliederung zeigt deutlich ‚ dass der Schwerpunkt beim Kleinhandel (43,4 Prozent) und beim Gewerbe (34,7 Prozent) lag. Durch dieses Überangebot an Dienstleistungen stagnierte die Wirtschaft in den Ghettostädten, die hohen Steuern des Zaren auf alle Dinge des jüdischen Lebens und die nötigen Bestechungsgelder zum Schutz vor der Willkür zaristischer Beamter verursachten überhöhte Preise. Die Folge dieser Situation war die Verarmung der russischen Juden.
Die Armut und Verfolgung trieb in den Jahren 1881 bis 1914 etwa 1 300000 Juden aus Russland zur Auswanderung, 85 Prozent davon nach Amerika. Eine von den 45.000 Juden, die alleine von 1891bis 1895 auswanderte ‚ war Mary Antin. 1894, zwei Jahre nach der großen Choleraepidemie in Hamburg, galten nach wie vor verschärfte Sicherheitsmaßnahmen in der Behandlung besonders osteuropäischer armer Juden. Da die Quelle die einzelnen Stationen der Reise chronologisch benennt, soll diesem Aufbau zunächst gefolgt werden
Alle Immigranten aus Osteuropa wurden in Ruhleben bei Berlin nochmals gründlich untersucht. 1891 war dort, um den Berliner Bahnverkehr zu entlasten, eine Desinfektionshalle erbaut worden, die die beiden hanseatischen Schifffahrtsgesellschaften und die preußische Eisenbahngesellschaft gemeinsam betrieben.
Sie galt vor allem auch für Auswanderer, die illegal die Grenze übertreten hatten und nun per Bahn in die Häfen reisen wollten. Dank der genauen Untersuchung dort wurde der Verkauf von Bahntickets von Ruhleben nach Hamburg an diejenigen wieder erlaubt, die im Besitz von Schifffahrtskarten der Hapag waren. Dies war zuvor verboten worden, um die illegale Grenzübertretung zu verhindern.
Die Verfasserin der Quelle berichtet von der isolierten Station, von der wiederholten ärztlichen Kontrolle und Desinfektion des Körpers und der Kleidung sowie des Gepäckes, die bereits an der Grenze erfolgt war.
Die Behandlung der Auswanderer scheint hier wie anderswo auch oft rau gewesen zu sein. Sowohl Mary Antin als auch Herr Kaliski, Redakteur des sozialdemokratischen “Vorwärts“, gaben Augenzeugenberichte darüber ab, die von offizieller Stelle abgestritten wurden. Bei Kaliski hört sich das wie folgt an:
Die Untersuchung beginnt. Bei Aufruf seines Namens tritt man vor, der Arzt untersucht die Augen und man geht in den Vorraum eines Brausebades… Vermutungen über den weiteren Verlauf werden angestellt, bis ein erregter Aufseher unter Anwendung nicht schmeichelhafter Adjektive uns auffordert, die Röcke zur Desinfektion hinauszugeben. Dann werden Bügel gereicht, auf die nun die übrigen Kleider gehängt werden… Kragen, Schlipse, Hosenträger werden in einen gemeinsamen Korb geworfen… nun wurden wir unter zehn Brausen getrieben, um uns dann in einem Raume… abzutrocknen… Jetzt erschienen wir in Nacktheit vor dem Arzte, der wieder die Augen und den Kopf am Nacken, wohl auf Weichselzopf, untersuchte… Die desinfizierten Kleidungsstücke mit Ausnahme der Röcke und Stiefel, kommen, und mit Aufmerksamkeit versucht jeder seine Sachen zu erspähen…
Allerdings waren die sanitären Einrichtungen der Ruhlebener und anderer Stationen oft sehr modern und zweckmäßig‘ was die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen wirksam machte‚ worauf später noch näher eingegangen werden soll. Weiter ging es zur letzten Station auf dem europäischen Festland, nach Hamburg.
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