Mary Antin und die russisch-jüdische Auswanderung in die USA im Jahr 1894

Einleitung

Quellenkritik

Inhaltsangabe

Die Situation der russischen Juden im historischen Kontext

Verschiedene Stationen auf dem Weg von der Grenze zum Hafen:

Grenzkontrollen

Einleitung

Nachdem die deutsche Massenauswanderung seit den 1870er Jahren abgeflaut war, ergoss sich von 1881 an erneut ein großer Strom von Auswanderern über Deutschland, dieses Mal hauptsächlich osteuropäische Juden, die aus schweren wirtschaftlichen Situationen und vor religiöser Verfolgung vor allem aus Russland flohen. Auch diese versprachen sich von der Immigration in die USA eine Besserung ihrer Stellung und durchzogen auf ihrem Weg zu den Hafenstädten Deutschland. Doch ihre große Zahl und die Gefahr der Einschleppung gefährlicher Krankheiten bereitete sowohl den Auswanderern selber als auch den deutschen Reedern, Behörden und Politikern Schwierigkeiten.

Die vorliegende Quelle erscheint als Dokumentation der Lage der Durchwanderer besonders interessant, da die Autobiographie von Mary Antin als repräsentativ für die Mehrzahl der 1894 auswandernden russischen Juden gelten darf.

Die folgende Quelleninterpretation befasst sich im Kern mit der Frage nach den verschiedenen Stationen auf der Reise von der russisch-preußische Grenze bis zur Abfahrt des Schiffes in Hamburg. In einem zweiten Schritt sollen besonders die sanitätspolizeilichen Maßnahmen im Auswandererverkehr untersucht werden, um zu einer Beurteilung der Reisebedingungen der russischen Juden nach 1892 durch Deutschland zu kommen.

Die Quelle ist unwissenschaftlich geschrieben, was in der Natur einer Autobiographie liegt, was aber die wissenschaftliche Untersuchung nicht unmöglich macht, da die in der Quelle genannten Fakten mit der damaligen Realität, wie sie sich aus anderen Quellen und der Sekundärliteratur ergibt, verglichen werden können.

Quellenkritik

Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um einen Auszug aus der Autobiographie von Mary Antin. Sie wurde erstmals unter dem Titel “From Plotzk to Boston“ 1899 in Boston, in erweiterter Fassung als “The promised land“ 1912 in Boston und Großbritannien veröffentlicht und erschien 1913 das erste Mal in Deutschland als “Vom Ghetto ins Land der Verheißung“. Zur Interpretation wurde die 2. deutsche Auflage der autorisierten Übersetzung von 1914 benutzt. Mary Antin schrieb ihre Memoiren bereits mit knapp 30 Jahren; sie begründet ihren Schritt im Vorwort damit, dass sie eine objektive Distanz zu ihrem ersten Lebensabschnitt habe ‚da dieser abgeschlossen sei. Ihr Leben sei deshalb veröffentlichenswert, weil ihre Entwicklung von der mittelalterlichen Abgeschiedenheit des Schtetls, der jiddischen Dorfgemeinschaft‚ ins moderne Amerika des 20. Jahrhunderts sehr typisch für russische Juden ihrer Zeit sei.

Adolf Saager, der Herausgeber der Memoiren Bibliothek, bezeichnet Mary Antin in seiner Einführung zu ihrem Buch als normal begabte Jüdin, die einzig durch ihre Sensibilität und Erinnerungskraft hervorstäche. Auch er bescheinigt ihr besondere Vollmacht, ihren Lebensweg als Schilderung der Lage der Juden im zaristischen Russland und im “Land der Verheißung“, Amerika, zu generalisieren.

Die Verfasserin wurde 1881 in Plotzk bei Witebsk in Weißrussland geboren, ihre Eltern waren unter den Umständen des jüdischen Ghettos verhältnismäßig wohlhabend und die vier Kinder genossen eine moderne Bildung. Doch durch lange Krankheit und erhöhte Konkurrenz in Plotzk durch die Vielzahl der Juden, die vom zaristischen Antisemitismus betroffen, gezwungen waren, in den Städten des ihnen erlaubten Ansiedlungsgebietes zu leben und zu arbeiten, verarmte die Familie Weltmann (Antin), bis dem Vater 1891 die Auswanderung nach Amerika als einzige Möglichkeit erschien. 

Fleißig und begabt

Drei Jahre später holte er seine Familie nach, obwohl der Start in Boston nicht einfach war. In Amerika stieg die Autorin durch Begabung, Fleiß und Glück von den Proletariervierteln zur Gebildetenwelt hoch, während ihre Familie etliche wirtschaftliche Fehlschläge erfuhr und sich ihr Leben nur langsam verbesserte. Mary Antin veröffentlichte bis 1935 etliche Essays, Kurzgeschichten und Gedichte und hielt Lesungen, die Themen der russisch- jüdischen Emigration und des Amerikanismus behandelten. 1918 zog sie sich aufgrund einer Krankheit vom öffentlichen Leben zurück und starb am 15.5.1949.

Die Autorin stützte ihre Berichte im allgemeinen auf ihre Erinnerung, im Falle des vorliegenden Auszuges benutzte sie des weiteren das Original eines Briefes, in dem sie einem Onkel in Russland eine sehr detaillierte Reisebeschreibung abgibt.

Inhaltsangabe

Die Reise 1894 von Russland bis Hamburg auf dem Wege nach Boston steht im Mittelpunkt des vorliegenden Quellenauszuges. Die Familie, die mit Pässen, Schiffskarten 3. Klasse, etwas Geld und Gepäck per Zug zum Hafen wollte, sei durch die Maßnahmen der deutschen Staaten gegen die vermeintliche Einschleppung von gefährlichen Krankheiten wie die Cholera durch osteuropäische Durchwanderer betroffen worden. Es seien ihr an der Grenze die Pässe weggenommen und mit Abweisung gedroht worden, da sie nicht über ausreichend Bargeld verfügte. Einem jüdischen karitativen Hilfsverein für Auswanderer sei es zu verdanken, dass sie ihre Reise dennoch fortsetzen konnte. Nachdem sie unterwegs mehrfach verhört, registriert, untersucht und desinfiziert worden sei ‚ habe man die Familie Antin in Hamburg in den Auswandererbaracken am Hafen in Quarantäne gehalten, bis ihr Schiff abfuhr.

Die Situation der russischen Juden im historischen Kontext

Antisemitismus hatte im russischen Zarenreich eine lange Geschichte. Bereits 1786 schuf ein, „Ukas“, ein Zarenerlass, einen Sperrbezirk für Juden, genannt “certa“ oder “Ansiedlungsrayon“, in dem Juden leben und arbeiten mussten. Unter Zar Nikolaus 1. wurde 1835 dieser Ansiedlungsrayon erneut festgelegt, Konzessionen für Handwerker und Bauern verteilt und die Registrierung von Juden sowie die Verweltlichung ihres Erziehungswesens angeordnet.

Zar Alexander II. (1818-1881) lockerte diese antijüdischen Gesetze leicht, so gab es nunmehr eine Wohn- und Arbeitserlaubnis außerhalb des Rayons für Privilegierte wie zum Beispiel Kaufleute der 1. Gilde, Akademiker und gelernte Handwerker. Nach seiner Ermordung setzten große antisemitische Pogrome ein, von denen zum Teil vermutet wird, dass sie staatlich entfacht waren, um von den inneren Problemen abzulenken. 

Der neue Zar Alexander III. beantwortete die Ausschreitungen mit einer Verschärfung der antijüdischen Gesetze, um dadurch den Kontakt und das Konfliktpotential zwischen Juden und Russen zu vermindern und um die, nach dem neuen Innenminister Ignatiev gefährliche Assimilation der Juden, die eine Verschwörungsgefahr darstelle, zu beenden.

Die Maigesetze und ihre Folgen

Mit den Maigesetzen 1882 wurden die Privilegien aufgehoben und die jüdische Bevölkerung zwar nicht vom Land vertrieben, aber die Neuansiedlung auf dem Lande verboten Als Reaktion wanderten die Juden in die Städte innerhalb des erlaubten Gebietes ab bzw. begannen, nach Amerika auszuwandern. Die Maigesetze wurden allerdings in der siebenjährigen Amtszeit des Innenministers Tolstoi nicht sehr einheitlich und streng durchgeführt, so dass es für die Juden immer noch Freiheiten gab.

Im Frühjahr 1891 allerdings setzte erneut eine Verschärfung der antijüdischen Gesetze ein: Der Ansiedlungsrayon wurde verkleinert und 20 000 ehemals geduldete Juden aus Moskau vertrieben ‚ was sich sofort auch auf die Amerikaauswanderung auswirkte. Der russische Staatsmann Pobedonozew sagte 1893: “Die beste Lösung der Judenfrage wäre es, wenn ein Drittel der Juden verhungerte, ein Drittel auswanderte und ein Drittel orthodox würde.“

Das Ansiedlungsrayon, das 1/23 des ganzen russischen Zarenreiches ausmachte und in dem 95,5 Prozent der russischen Juden lebten, erstreckte sich über 15 westliche und südliche Gouvernements und die 10 polnischen Gouvernements 50,5 Prozent der Juden lebten als Folge des Landbesiedlungsverbotes in Städten. Die Berufsgliederung zeigt deutlich ‚ dass der Schwerpunkt beim Kleinhandel (43,4 Prozent) und beim Gewerbe (34,7 Prozent) lag. Durch dieses Überangebot an Dienstleistungen stagnierte die Wirtschaft in den Ghettostädten, die hohen Steuern des Zaren auf alle Dinge des jüdischen Lebens und die nötigen Bestechungsgelder zum Schutz vor der Willkür zaristischer Beamter verursachten überhöhte Preise. Die Folge dieser Situation war die Verarmung der russischen Juden.

Armut und Verfolgung 

Die Armut und Verfolgung trieb in den Jahren 1881 bis 1914 etwa 1 300000 Juden aus Russland zur Auswanderung, 85 Prozent davon nach Amerika. Eine von den 45.000 Juden, die alleine von 1891bis 1895 auswanderte ‚ war Mary Antin. 1894, zwei Jahre nach der großen Choleraepidemie in Hamburg, galten nach wie vor verschärfte Sicherheitsmaßnahmen in der Behandlung besonders osteuropäischer armer Juden. Da die Quelle die einzelnen Stationen der Reise chronologisch benennt, soll diesem Aufbau zunächst gefolgt werden

Verschiedene Stationen auf dem Weg von der Grenze zum Hafen

Im folgenden sollen die einzelnen Reisestationen von der preußisch-russischen Grenze zum Hamburger Abfahrtshafen untersucht werden, wie sie sich aus der vorliegenden Quelle und aus verschiedenen Sekundärliteraturen darstellen.

Grenzkontrollen

Als erster Halt der Reise sind die letzte russische Station sowie die Grenzstationen Kibart und Eydtkuhnen zu nennen. Die Familie erreicht die Grenze mit etwas Bargeld, das sie sich erspart und erliehen hatte, mit den Dampfschifffahrtskarten der Zwischendeckklasse, die der Vater ihnen aus Amerika hatte zukommen lassen, und mit dem notwendigen Auslandspass, ohne den kein Russe auswandern durfte. Den Auslandspass erhielt man allerdings nur, wenn man bereits einen Inlandspass besaß oder im Melderegister der Heimatgemeinde eingetragen war. Der Erwerb eines Passes war jedoch auch eine Geldfrage: 25 Rubel kostete er, wovon 15 Rubel für das Passbuch, drei Rubel für die Stempel und sieben Rubel für Spesen und Bestechungsgelder abgingen. Ohne Pass aufgegriffen werden konnte im Einzelfall Gefängnis bedeuten.  Dabei ist aber auch zu bemerken, dass der Schmuggel jüdischer Immigranten von russischer Seite zum Teil gefördert wurde, um sich der lästigen Andersgläubigen zu entledigen. Die Verfasserin reiste zu einer Zeit aus, als die gesundheitlichen Kontrollen wichtiger waren als die paupers-Kontrollen, da die Transit- und die Einwanderungsländer, besonders die USA, die Einschleppung ansteckender Krankheiten befürchteten. Darauf wird später noch näher einzugehen sein. Bereits auf russischem Gebiet wurde der Immigrant ärztlich untersucht, nach dem Reiseziel befragt und ein Bargeldnachweis verlangt. 

Kontrollvorschriften umgehen

Die Verfasserin beschreibt, dass ihnen der Umtausch ihrer Zwischendeckbillets in Billets der 2. Klasse die Weiterreise garantieren sollte. Dieser Trick der Hamburger Reederei Hapag sollte die preußischen Kontrollvorschriften umgehen, nach denen russische Auswanderer ohne Schifffahrtskarten oder nur mit Zwischendeckkarten der Transitverkehr untersagt worden war‚ da von ihnen, wie angenommen wurde, die größte gesundheitliche Gefahr ausging. Um diese Umgehung zu unterbinden, wurde schließlich auch ihr Transport in der 2. Klasse verboten. In den vom preußischen Innenminister im Oktober 1893 erlassenen Grundsätzen wurde eine Kajütenfahrkarte vorgeschrieben. Trotzdem wurde immer wieder versucht, Zwischendeckpassagiere als Kajütenpassagiere durch die Grenzkontrollen zu schleusen. In dem Falle der Verfasserin reichten die finanziellen Mittel nicht aus, die Differenz zu bezahlen, und so wurde ihnen der Pass als Berechtigung zur Auswanderung abgenommen und mit der Abweisung gedroht. Um dem zu entgehen und ihre Reise fortzusetzen, reiste Familie Antin nach Kibart, wo ihr Inlandspässe nach Eydtkuhnen verschafft wurde. Eydtkuhnen war eine Grenzstadt, die als Durchgangsstation für russische Auswanderer diente und später auch als eine der reedereieigenen Kontrollstationen benutzt wurde, die ab 1895 von Hapag und der Bremer Norddeutschen Lloyd eingerichtet wurden, um so ihre Geschäfte vor den preußischen Kontrollauflagen zu schützen. In Eydtkuhnen wurde der verarmten Familie durch einen Hilfsverein für Auswanderer geholfen.

Karitative jüdische Organisationen

Als Reaktion auf die Pogrom in Russland und die anschließende Auswanderungswelle wurden besonders nach 1881 zahlreiche jüdische Hilfsvereine gegründet, worunter das “Deutsche Central-Komitee für die russischen Juden“, der “Israelische Unterstützungsverein für Obdachlose“ und der “Hilfsverein für deutsche Juden“ die größten waren. Alle drei nahmen im Einverständnis mit den deutschen Staaten ähnliche Aufgaben wahr: Sie versorgten mittellose jüdische Immigranten mit Pässen, ärztlicher Untersuchung und Pflege, koscherer Nahrung und Kleidung und Zuschüssen, jedoch war die finanzielle Unterstützung nur gering, da die Hilfe keinen Anreiz zur Auswanderung darstellen sollte oder durfte. Die Organisationen wirkten auch durch lokale Gruppen und Vertrauensleute, vor allem an Grenzorten und  Eisenbahnknotenpunkten, wo sie die Auswanderer direkt versorgten, in Gruppen zusammenfassten und zum jeweiligen Hafen transportierten.

Central-Kommitee kümmerte sich

Das Central-Komitee nahm eine Sonderstellung ein, da in den bereits erwähnten preußischen Grundsätzen vom Oktober 1893 ausdrücklich Juden, die vom Central-Komitee unterstützt wurden, vom Barmittelnachweis ausgenommen wurden. Der Familie Antin wurde durch eine dieser jüdischen Hilfsorganisationen zu einem Pass verholfen und weiterbefördert. Die Fahrt erfolgte in überfüllten und unhygienischen Sonderwagons der 4. Klasse und wurde unterbrochen durch einige sanitätspolizeiliche und sonstige Untersuchungen. Ohne Unterbrechung dauerte die Bahnfahrt von der Grenze bis Hamburg ca. 25 1/2 Stunden und kostete etwa elf Mark, wobei die jüdischen Hilfsvereine weitere Fahrpreisvergünstigungen für sich erwirkten.

Ruhleben

Alle Immigranten aus Osteuropa wurden in Ruhleben bei Berlin nochmals gründlich untersucht. 1891 war dort, um den Berliner Bahnverkehr zu entlasten, eine Desinfektionshalle erbaut worden, die die beiden hanseatischen Schifffahrtsgesellschaften und die preußische Eisenbahngesellschaft gemeinsam betrieben.

Sie galt vor allem auch für Auswanderer, die illegal die Grenze übertreten hatten und nun per Bahn in die Häfen reisen wollten. Dank der genauen Untersuchung dort wurde der Verkauf von Bahntickets von Ruhleben nach Hamburg an diejenigen wieder erlaubt, die im Besitz von Schifffahrtskarten der Hapag waren. Dies war zuvor verboten worden, um die illegale Grenzübertretung zu verhindern.

Die Verfasserin der Quelle berichtet von der isolierten Station, von der wiederholten ärztlichen Kontrolle und Desinfektion des Körpers und der Kleidung sowie des Gepäckes, die bereits an der Grenze erfolgt war. 

Raue Behandlung

Die Behandlung der Auswanderer scheint hier wie anderswo auch oft rau gewesen zu sein. Sowohl Mary Antin als auch Herr Kaliski, Redakteur des sozialdemokratischen “Vorwärts“, gaben Augenzeugenberichte darüber ab, die von offizieller Stelle abgestritten wurden. Bei Kaliski hört sich das wie folgt an:

Die Untersuchung beginnt. Bei Aufruf seines Namens tritt man vor, der Arzt untersucht die Augen und man geht in den Vorraum eines Brausebades… Vermutungen über den weiteren Verlauf werden angestellt, bis ein erregter Aufseher unter Anwendung nicht schmeichelhafter Adjektive uns auffordert, die Röcke zur Desinfektion hinauszugeben. Dann werden Bügel gereicht, auf die nun die übrigen Kleider gehängt werden… Kragen, Schlipse, Hosenträger werden in einen gemeinsamen Korb geworfen… nun wurden wir unter zehn Brausen getrieben, um uns dann in einem Raume… abzutrocknen… Jetzt erschienen wir in Nacktheit vor dem Arzte, der wieder die Augen und den Kopf am Nacken, wohl auf Weichselzopf, untersuchte… Die desinfizierten Kleidungsstücke mit Ausnahme der Röcke und Stiefel, kommen, und mit Aufmerksamkeit versucht jeder seine Sachen zu erspähen…

Allerdings waren die sanitären Einrichtungen der Ruhlebener und anderer Stationen oft sehr modern und zweckmäßig‘ was die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen wirksam machte‚ worauf später noch näher eingegangen werden soll. Weiter ging es zur letzten Station auf dem europäischen Festland, nach Hamburg.

Hamburg

1894, als Mary Antin in Hamburg auf die Abfahrt ihres Dampfschiffes wartete, hatte sich Hamburg als Auswandererhafen einen Namen gemacht. Zu Anfang des Geschäftes mit den Immigranten war Bremen durch entsprechende Gesetze zum Schutz des Staates, der hanseatischen Kaufmannschaft aber auch der Auswanderer selber im Vorteil: 1832 wurde die Überfahrt auf den Bremer Schiffen geregelt, so dass eine gewisse Sicherheit der Auswanderer garantiert wurde, 1851 wurde in Bremen ein Nachweisungsbüro gegründet ‚ das es sich zum Ziel machte, die Transitreisenden zu beraten, vor Betrügern zu schützen und bei der Unterkunftssuche in Bremen zu helfen.  Nachdem Hamburg sich noch 1832 ablehnend gegenüber der Auswanderung geäußert hatte, zumal ihr Überseehandel traditionell auf Lateinamerika, nicht Nordamerika wie der bremische, ausgerichtet war, blieb dem Senat nach Protesten der Hamburger Reeder und der Gründung der “Hamburger Linienschifffahrtsgesellschaft“ unter Robert M. Sloman 1836 nichts anderes übrig, als 1837 dem Bremer Beispiel zu folgen, da die Hamburger Profite unter der scharfen Gesetzgebung litten. 

Parallelen zwischen Bremen und Hamburg

Bis in die 1870er Jahre blieb Bremen Vorbild in der Regulation und Kontrolle des Hamburger Auswanderungswesens; 1851 wurde ebenfalls ein Nachweisungsbüro eröffnet, allerdings hatte die Hamburger Variante mehr philantrophisch-humanitäre Motive, während das Bremer Büro mit gewissen polizeilichen Befugnissen ausgestattet war; 1892 baute die Hapag Auswandererbaracken, nachdem in Bremerhaven bereits 1850 ein großangelegtes Auswandererhaus für 1500 bis 2000 Personen gebaut worden war. Zuvor waren die Auswanderer in Hamburg in einer Vielzahl privater Herbergen untergekommen, im Durchschnitt mehr als 4000 Personen pro Monat in den Jahren 1881-1890. Als 1891 ein enormer Zuwachs an Durchwanderern erfolgte, wurden zuerst aushilfsweise alte Schiffe der Hapag als Logisschiffe und öffentliche Gebäude als Notquartiere verwendet ‚ bis der Senat die Hapag mit dem Bau der Baracken auf Staatsgelände am Hafen beauftragte. Hier war Platz für 1400 Personen in 10 Sälen und Aufenthalt5räumen unter polizeibehördlicher Verwaltung.

Barackenzwang mit Quarantäne

Nach der Cholera 1892 in Hamburg wurden die Baracken vor allem auch zum Schutz der Bevölkerung vor der Infektion mit Krankheiten durch die osteuropäischen Auswanderer benutzt. Es galt auch für die folgenden Jahre Barackenzwang mit Quarantäne für alle Russen, ihnen war es bis 1896 verboten, sich Quartiere in der Stadt zu suchen. Sie blieben jedoch auch nach Aufhebung dieses Zwanges oft in den Baracken, da dies die billigste Unterkunftsmöglichkeit war: Eine Mark bezahlte man hier pro Tag für Unterkunft und volle Verpflegung mit relativ guten sanitären und sonstigen Einrichtungen, während die billigste Unterkunft in einem Logierhaus der 3. Klasse seit 1891 zwei Mark kostete. Die Verfasserin berichtet, dass sie direkt vom Bahnhof auf einem Rollwagen scheinbar endlos durch die Stadt zu einem noch unbekannten Ziel fuhren. Damit wurde jeder Kontakt mit der Bevölkerung ausgeschlossen, die durch diese Isolation nur geringes Interesse an den Osteuropäern zeigte.  In den Baracken angekommen, die etwa eine Stunde vom Bahnhof am Amerika-Quai lagen, wurden die Immigranten zum wiederholten Mal über ihre finanziellen Mittel und Reiseziele befragt, registriert und desinfiziert, mit dem Ziel, alle auch illegal angereiste Personen zu erfassen und die Krankheitsgefahr möglichst auszuschließen. Hier erwähnt die Autorin das erste Mal eine Kopfsteuer, die für das Baden und die Desinfektion verlangt wurde: Zwei Mark für Reisende mit direktem Hapag- bzw. Lloyd-Billet nach Amerika, vier Mark für indirekte Auswanderer. Die Familie wurde durch solche ungeahnten Auslagen ebenso wie durch die bereits geschilderten Komplikationen an der Grenze fast vollkommen mittellos. 14 Tage verbrachte die Verfasserin in Quarantäne, obwohl nur sechs Tage vorgeschrieben waren. Vermutlich war es einfacher, die Auswanderer bis zu ihrer tatsächlichen Abreise in den Baracken zu belassen. Eine „unreine“ und eine „reine“ Seite, also eine Trennung in Isolationsstation und Herbergsräume scheint es erst in den 1901 als verbesserte Nachfolge gebauten Auswanderungshallen auf der Veddel gegeben zu haben. Die Quelle endet mit der Abfahrt des Schiffes, das die Familie Antin nach Boston bringen sollte.

Gesundheitspolizeiliche Maßnahmen

Im Sommer 1892 herrschte in verschiedenen Gebieten Russlands die Cholera. die sich von Asien westwärts verbreitete. Da die hygienischen Verhältnisse in Russland allgemein nicht gut waren, wurde eine Einschleppung der Cholera durch die osteuropäischen Durchwanderer nach Deutschland befürchtet. Es wurden auch sofort die preußischen Ostgrenzen für russische und österreichisch-ungarische Immigranten geschlossen, nachdem am 21.8.1892 die Cholera in Hamburg ausgebrochen war. Tatsächlich wurde die Epidemie aber wahrscheinlich durch Seeleute aus Frankreich eingeschleppt, wo um Paris ebenfalls ein Choleraherd bestand. Dazu kommt, dass die Hauptauswanderungsgebiete in Russland bis zum 10.8. cholerafrei waren. Zehn Wochen wütete die Epidemie in Hamburg und forderte über 8600 Leben. Die Bürger machten dem Senat Vorwürfe, die Gefahr verheimlicht und die Verbesserung sanitärer Einrichtungen wie eine Kläranlage bewusst verzögert zu haben. Der Senat rechtfertigte sich damit, dass die russischen Immigranten Schuld an der Seuche hätten, wie auch Robert Koch, Entdecker des Cholera- Erregers, angenommen hatte. In der Tat trat aber bis zum 24.8. kein einziger Cholerafall in den Baracken auf, obwohl es bis zum 23.8. bereits in allen Teilen der Stadt 815 Kranke gab, und der erste Krankheitsfall in den Baracken war ein Mann, der gerade seit zwei Stunden in Hamburg war. 

Maßnahmen gegen Auswanderer

Die ersten Maßnahmen richteten sich dennoch gegen die Auswanderer, die ab sofort besonders sorgfältigen ärztlichen Untersuchungen unterworfen wurden, da einerseits die Infektion der deutschen Bevölkerung, andererseits die Abschiebung der Auswanderer aus den USA auf Kosten der Reedereien befürchtet wurden. Die Maßnahmen umfassten zuerst eine totale Sperre der deutschen Ostgrenzen. Da dies nur zu massenhaften unkontrollierten Grenzüberschreitungen führte, wurde die Sperrung gelockert, Zwischendeckpassagen zum Teil verboten und Grenzkontrollen eingerichtet, wo eine erste gesundheitliche Untersuchung und, falls nötig, Desinfektion der Kleider und des Gepäcks erfolgten. 1895 einigten sich die Hapag, der Lloyd und die preußische Eisenbahngesellschaft endgültig auf die Anlage dieser 5 bzw. 9 von den Reedereien betriebenen Kontrollstationen, zuvor scheint es eher ein Provisorium gewesen zu sein. In Ruhleben bei Berlin fand die zweite gründliche Untersuchung statt. Laut Sekundärliteratur mussten sich dort wie auch in Hamburg nur diejenigen der Prozedur unterziehen, die dies nicht schon bereits an der Grenze bzw. in Ruh1eben getan hätten. In der Quelle wird jedoch berichtet, dass jedes Mal alle Auswanderer kontrolliert worden seien. Vermutlich wurde lieber zu gründlich als zu fahrlässig untersucht, da es auch im Interesse der Schifffahrts- und Eisenbahngesellschaften lag, gesunde Passagiere zu befördern.

Sperrung der Stadtgrenze unwirksam

Bis zum Betrieb der Kontrollstationen 1895 oblag es den Hafenstädten, geeignete Schutzmaßnahmen für sich zu ergreifen. Hamburg reagierte zunächst mit einer Sperrung der Stadtgrenzen für russische Auswanderer mit Zwischendeckkarten. Da diese Sperre aber ähnlich unwirksam war wie die der preußischen Grenze, führten die Behörden verschärft ärztliche Untersuchungen mit Quarantänezwang ein. Diese Isolation fand in den bereits erwähnten Baracken am Amerika-Quai statt. Die Reihenuntersuchungen bei den verschiedenen Stationen sind vermutlich aufgrund der Massen nur oberflächlich gewesen, dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bis zur Hafenstadt gefährliche Krankheiten aufgefallen waren, groß. Dies bestätigt auch die Tatsache, dass bei 30 000 bis 40 000 russischen Auswanderern, die 1893 über Bremen immigrierten, kein einziger Cholerafall auftauchte. Kontrolliert wurden hauptsächlich Symptome für häufige osteuropäische Krankheiten, Augen, Haare, Rachen, Haut und Nacken wurden dafür inspiziert. Kranke Durchwanderer wurden zurückgewiesen oder in Krankenhäusern behandelt.

Fazit

Die Verfolgung und Beschränkung jüdischen Lebens im zaristischen Russland führte Ende des letzten Jahrhunderts zu einer massenhaften Immigration von Juden nach Amerika. Rekapituliert man ihren Weg durch Deutschland von der russisch-preußischen Grenze bis in die Hafenstädte, als Beispiel Hamburg, so ist eine von Vorurteilen besetzte und geschäftstüchtige harte Kontrolle festzustellen. Nachdem 1892 in Hamburg die Cholera ausgebrochen war und allgemein die Schuld den osteuropäischen, hauptsächlich armen Auswanderern zugeschoben wurde, verschärften sich die deutschen Kontrollen dermaßen, dass es Immigranten lange Zeit verboten war, in der billigen Zwischendeckklasse zu reisen. Nur mit Umgehung dieser Maßnahme durch den Eintausch des Billets oder durch die Hilfe eines der sich damals gründenden jüdischen karitativen Vereine, die sich um die mittellosen Durchwanderer kümmerten, konnte die Reise fortgesetzt werden.

Erkrankte Auswanderer wurden abgewiesen

Zahlreiche ärztliche Untersuchungen nach ansteckenden Krankheiten und Desinfektionen der Körper, der Kleidung und des Gepäcks sollten sicherstellen, dass die Auswanderer gesund waren, im eigenen Interesse der Reisenden, da sie andernfalls aus den USA abgewiesen und zurückgeschickt worden wären, und auch im eigenen Interesse der Schifffahrtsgesellschaften, die ein Verbot des Transportes von osteuropäischen Immigranten befürchteten. In Hamburg wurden die Durchwanderer nach 1892 in den Auswandererbaracken der Hapag bis zur Abfahrt ihres Schiffes in Zwangsquarantäne gehalten, um auch noch die letzten Krankheitskeime beobachten zu können. Auf ihrem Weg durch Deutschland wurden die Menschen oft wie Vieh behandelt; die barschen, entwürdigenden Untersuchungen, die überfüllten Bahnwagons und die isolierten, ebenfalls vollen Baracken hinterließen keinen guten Eindruck bei den Auswanderern, doch konnten so tatsächlich mögliche weitere Epidemien verhindert und das Auswanderungsgeschäft weiterhin betrieben werden. Durch eine Besserung der politischen Lage der Juden in Russland wurden die Spitzenzahlen der Jahre 1881-1892 später nicht mehr erreicht, Hamburg blieb aber auch weiterhin für die dennoch Auswanderungswilligen einer der Hauptauswanderungshäfen.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Mary Antin, Vom Ghetto ins Land der Verheißung, Stuttgart 1914 Ernst Baasch, Geschichte Hamburgs 1814-1918, Gotha 1924 Franz J. Bautz (Hg.), Geschichte der Juden, München 1983 Haim-Hillel Ben-Sasson (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes, München 1980 Theodor Deneke, Die Hamburger Cholera-Epidemie 1892, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburger Geschichte 40, 1949 Rolf Engelsing, Bremen als Auswanderungshafen 1683-1880, Bremen 1961 Birgit Gelberg, Auswanderung nach Übersee, Hamburg 1973 Ann E. Healy, Tsarist Anti-Semitism and Russian-American Relations, in: Slavic Review 42/3, 1983 Michael Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung, Hamburg 1988 Bernhard Karlsberg, Geschichte und Bedeutung der deutschen Durchwandererkontrolle, Leipzig 1922 Almut Mehner, Auswanderungsmissionen bis zum Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburger Geschichte 63, 1977 … nach Amerika! Auswanderung in die Vereinigten Staaten, Hamburg 1976 Hans Weichmann, Auswanderung aus Österreich und Russland über deutsche Häfen, Berlin 1913

Birgit Köhler

Journalistin
Historikerin
Lyrikerin
Autorin
aus Bremen