Rocky revisited

Erfolgsmusical am Waldau-Theater nun nach Transsylvanien abgereist

(erschienen im Onlinemagazin Bremer Zeitkultur, 15.07.2002)

Bremen. Wie gut spielt man, wenn man 101 Mal die Strapse anzieht und die Hüften zum Time Warp schwingt? Dieser Gedanke kam mir, als ich bei der vorletzten Vorstellung der Rocky Horror Show im Ernst-Waldau-Theater in der vierten Reihe saß. 35.000 Menschen hat das Stück nach Walle gelockt. Und auch ich war nicht das erste Mal in diesem Stück, das die Truppe um den Sänger und Musical-Schauspieler Hans Neblung zu neuem Leben erweckt hat: Die letzten Proben damals vor der Premiere hatte ich beobachtet, dann die Premiere selbst am 2. September 2000, später noch einmal mit meiner jüngeren Schwester, die erst einmal in die Geheimnisse dieses „interaktiven“ Bühnenstückes eingeweiht werden musste („Hilfe! Ich kann kein Hut aus Zeitungspapier basteln!“), und eben jetzt noch einmal, zur endgültig vorletzten Show, die exakt 101. Vorstellung, und zur Krönung eine jener stets ausgebuchten und fast schon legendären Late Night Shows. Gelegenheit also, eine Kritik der anderen Art zu schreiben. Denn kaum ein Kritiker besucht ein Stück nach der Premiere, erst Recht nicht ein zweites, drittes oder viertes Mal.

Zerrissene Netzstrümpfe

Also, wie gut spielt man, wenn man 101 Mal die Federboa zwischen den netzbestrumpften Beine durchzieht? Die Netzstrümpfe sind derweil mehrmals zerrissen und sehen gar nicht mehr erotisch aus. Und manche Gags und Zwischenrufe, die am Anfang vielleicht spontan entstanden waren, sind mittlerweile allzu einstudiert, kommen zu schnell und fast gelangweilt. Aber wer könnte das nicht verstehen? Und dennoch: Eine gewisse Spontaneität ist geblieben – ein zu spät auf die Bühne fliegendes Toastbrot (Kenner wissen an welcher Stelle!) kommentiert Frank N. Furter alias Hans Neblung spitz: „Na, haben wir dich jetzt geweckt??“ Und andererseits: Erfahrung wappnet auch – in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes, denn Janet (dammit!) und Brad wissen schon, warum sie sich mit den Zeitungsseiten zum Publikum abschirmen. (Die Rocky Horror Show ist eines dieser seltenen Stücke, bei dem sich auf der Damentoilette bereits vor der Vorstellung eine lange Schlange bildet – schließlich müssen all die Wasserpistolen und modernen „Pumpguns“ rechtzeitig startbereit sein!)

Kulturelles Erbstück

Wer dies bis jetzt gelesen hat, ohne das Stück zu kennen, sollte sich unbedingt aus der nächsten Videothek den Film mit Tim Curry ausleihen. Ein kulturelles Erbstück, das in keinem Bildungskanon fehlen sollte. Den meisten wird die Handlung um das Pärchen Janet und Brad und ihren schaurigen Erlebnissen im Schloss des Dr. Frank N. Furter allerdings bekannt sein. Die Musicalversion von Hans Neblung unterscheidet sich kaum von anderen Bühnenvarianten. Ein bisschen spartanischer vielleicht, ein bisschen mehr Choreografie, aber auf alle Fälle ein Mitmach-Theater, wie es das Publikum liebt und erwartet – und gerade bei der letzten Mitternachtsshow flog so viel Reis, Toilettenpapier und Toastbrot nach vorn wie wohl selten zuvor. Ein paar Umbesetzungen waren im Laufe der beiden Jahre nötig, und einige taten dem Stück auch sehr gut: So hatte Dominik Orth als Eddie („ssssch!“) bzw. Dr. Scott („uh!“) bei der Premiere noch erhebliche Schwierigkeiten mit seiner Rolle. Nunmehr war er zu Brad mutiert, was ihm sichtlich besser lag, und Markus Simader brillierte statt dessen als nuschelnder Dr. Scott.

Rocky: kein Spargeltarzan mehr

Gewinner des Tages war Rocky. Wer bei der Premiere dabei war, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als Frank N. Furters Geschöpf in seiner goldenen Unterhose ausgewickelt wurde: Was da hervorkam, war nicht mehr als ein Spargeltarzan. Am Ende nun zeigt sich, was zwei Jahre Bodybuilding anrichten können: Ein wohlproportionierter Körper, leicht gebräunt und gut anzuschauen wurde da bei Rockys „Geburt“ enthüllt. Erst ein Blick ins aktuelle Programmheft überzeugte mich; der Schauspieler war der gleiche war wie bereits früher: Licio Mariani. Und noch eines war bemerkenswert: Die Stimmen von Hans Neblung und Kaatje Dierks (Janet) sind im Laufe der Zeit noch grandioser geworden. Da darf man gespannt sein, was Hans (der mich persönlich immer ein wenig an unseren „Landeshenning“ erinnert…) demnächst macht. Ein Solo-Programm ist geplant, eine neue CD… und wer weiß, vielleicht ja auch bald noch einmal ein neues Musical? Das Waldau-Theater jedenfalls hat den Vorteil eines kleinen, flexiblen Musicals begriffen: In der neuen Saison läuft „Der kleine Horrorladen“, ähnlich wie Rocky ein Kult und fast schon Garant für ein volles Haus. (bik)

Birgit Köhler

Journalistin
Historikerin
Lyrikerin
Autorin
aus Bremen